POET NR. 07 INHALT COVER ORDERN ET CETERA

  Neue Lyrik aus Argentinien

Einführung von Timo Berger

„Die Lyrik ist tot“, betitelt Ezequiel Zaidenwerg eine Serie noch un­veröffent­lichter Texte. In Argentinien regiert die Poesie, möchte ich anfügen. Denn Gedichte werden nach wie vor zuhauf geschrieben. „Ich bin Dichter“, schmettert es einem beim Hauptstadtbummel aber auch in den Provinzen oft entgegen. Und es sind beileibe keine Tango­poeten, nein: Ein schmutziger Realismus ist zu verzeichnen, Pop-Art-Poesie oder ein von der angelsächsischen Postmoderne in­spirie­rter Objek­tivismus, sowie hier und da ein Aufflackern des von Kuba über Brasilien hinüber­schwappenden Neobarroco.

Es hat sich ein ganz eigenes Konglomerat an vielgestaltiger Dichtung in dem süd­amerikanischen Land geformt. Buenos Aires ist eines der großen Zentren der latein­amerika­nischen Literatur, neben Mexiko-Stadt, Santiago de Chile, Lima, Rio de Janeiro und selbst­verständlich Barcelona, Diaspora-Metropole spanisch­stämmiger Rück­wanderer. Die argentinische Zunge ist härter, weniger sprachgläubig als die der Peruaner, weniger verspielt als die der Mexikaner, aber versöhnlicher als der anklagende Ton der angry young poets im Chile nach Pinochet. Die Argentinier sind laut, ja, aber europäisch laut. Indigene und afro­amerikanische Traditionen sind bei ihnen rand­ständig; man misst sich selbstbewusst an Pound, Eliot, Ashbury und Whitman. Erst in jüngster Zeit trommelt man auf ­urangolanischen Rhythmen den Candombé, in der Rockmusik, vielleicht auch bald in der schreibenden Zunft.

Die vorliegende Auswahl versucht, einige der besonderen Stimmen der argen­tinischen Lyrik zu versammeln – ausgenommen viele gibt es heute, und der Zuschnitt fällt schwer. Ver­schieden­heit war ein Auswahl­kriterium, die Anschluss­fähigkeit an die aktuelle deutsch­sprachige Dichtung ein anderes. Keine fliegenden Teppiche des Magischen Realismus, keine Exotik und kein Fair Trade der Verse.

Wenn D. G. Helder den Überresten einer nieder­gegangenen Industrie­landschaft um die ehemalige Getreide­metropole Rosario setzerisch nachspürt, dann setzt Sergio Raimondi aus Bahía Blanca genau da an, wo trans­nationale Konsortien in die Wüste der Pampa neue petrochemische Mega­projekte pflanzen und ihre Sicht auf Welt und Sprache gleich mit­einschreiben. Die Pata­gonierin Paz Levinson verfügt über einen genauen, an den extremen Natur­erfahrungen geschulten Blick, der sich den Zyklen der Arbeit und der Freizeit annimmt. Sie verzichtet bewusst auf markt­schreierische Töne, eruiert lieber die Ritzen der Wahrnehmung im fahlen Winterlicht süd­amerikanischer Strände.

Aus einer Generation zuvor forscht Silvana Franzetti aus Buenos Aires tänzelnd an den Andocks­tellen der historischen Avant­garden. Lichtspiel und Dichtkunst werden bei ihr zu zwei Facetten ihrer feinsäuberlich choreographierten Textarbeiten.

Die Jüngsten der Auswahl sind zugleich auch am konträrsten im Schreibansatz: Während Zaidenwerg mit Versatzstücken klassischer Versmaße und literarischer Zitate spielt, um seinen durchaus aktuellen Anliegen eine Form zu geben, schlägt Violeta Kesselman den umgekehrten Weg ein. Sie stottert sich näselnd durch eine poetisch amorphe Masse, einen dichten Schleim, möchte man paraphra­sierend formu­lieren. Herauskommt ein perfor­mativer Wahn-Sinn K.

Abschließend bleibt die historische Synopse nachzutragen: 1983 kehrt das Land im Südkegel Amerikas zur Demokratie zurück. Nach sieben Jahren blutiger Diktatur, der 30.000 Argentinier zum Opfer fielen, auch eine Handvoll Dichter, die für die Linke gekämpft hatten. 2001 dann die große Wirtschafts- und Währungs­krise, der Staats­bankrott als Konsequenz des neoliberalen Aus­verkaufs der 1990er Jahre: Das poetische Feld, verlassen von den großen Verlagen, organi­siert sich selbst, und es formiert sich eine faszinierend facetten­reiche Poesie, aus der sich auch das vorliegende Dossier speist. Viel Spaß mit den argenti­nischen Dichterinnen und Dichtern!

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Timo Berger, geboren 1974 in Stuttgart. Studierte AVL, Latein­amerikanistik und Neuere deutsche Literatur. Schreibt Lyrik, Prosa und übersetzt aus dem Spa­nischen und Portu­giesischen. Stipen­diat der Villa Decius, Krakau, Teilnehmer der Über­setzer­werk­statt des LCB. Zuletzt: Ferne Quartiere (Lyrik&edition 2000, 2008) und Schuhe aus Leinen. Gedichte von Washington Cucurto (SuKuLTuR 2008). Seit 2009 Herausgeber der latinoamericana-Reihe bei luxbooks.
 
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