POET NR. 05 INHALT COVER ORDERN ET CETERA

  Andreas Stichmann

Hey Hoppmanns

Die Hoppmann-Brüder haben beide Bomberjacken: Außen blau und innen orange. Der eine sieht klein aus in seiner Jacke, denn er ist klein, der andere groß, denn er ist groß.
Wenn die Hoppman-Brüder ins Jugendzentrum kommen, sagt die Sozialarbeiterin: „Hey Hoppmanns, wollt ihr bei der Radio­werk­statt mitmachen?“
Auf dem Sofa sitzt der Zivildienstleistende und sagt: „Au ja“, und auch die Hoppmanns haben nichts dagegen, also sitzen sie vor dem Bandschneidegerät und machen Radiowerkstatt. Oder sie sitzen in einer Seifenkiste und fahren den Berg runter, der eine sitzt vorn, der andere dahinter, unten an der Straße steht der Zivildienstleistende und guckt, dass keine Autos kommen. Der Zivildienstleistende ist nett und nimmt die Hoppmann-Brüder mit in den Imbiss und vergleicht sein Schnitzel mit dem Geschlecht einer Frau. Da lachen die Hoppmann-Brüder. Die Sozialarbeiterin ist auch nett: Sie ist dick und lackiert sich die Fingernägel, sie raucht viel, liebt Schokolade und ist von großer emotionaler Wärme.
Sie sagt immer: „Warum prügelt ihr euch denn, das tut doch weh?“
Wenn die Hoppmann-Brüder nicht im Jugendzentrum sind, prügeln sie sich nämlich immer oder treiben sich in den leerstehenden Häusern rum, von denen es in der Gegend viele gibt. Sie stöbern in den Sachen, die bis vor kurzem noch jemandem gehört haben. Der große Hoppmann pinkelt in Flaschen und bunkert sie im Regal. Manch­mal machen die Hoppmanns ein Matratzenlager auf und schlafen zusammen mit anderen Kindern in den Häusern. Dann schlenkert der große Hoppmann mit seinem Penis herum und lacht dreckig. Auch die anderen Kinder lachen. Nur der kleine Hoppmann sitzt in einem Pappkarton und ist nicht so richtig dabei, denn er ist zu schüchtern. Wenn die Hoppmann-Brüder am Morgen nach solchen Nächten nach Hause kommen, versuchen sie, sich über den Hühnerhof ins Haus zu schleichen. Der Große voran, der Kleine hinterher. Aber die Mutter wartet schon mit dem Teppichklopfer. Dann prügelt die Mutter und der Vater sitzt im Sessel.
Zur Schule gehen die Hoppmann-Brüder in die moderne Ge­samt­schule. Das ist ein buntes Gebäude mit viel Glas und einem Behindertenaufzug. Als der große Hoppmann dem Streber Jan-Frederic in der großen Pause mit einem Karate-Sprung ins Gesicht springt, muss er von der Schule. Der kleine Hoppmann ist nicht so auffällig, raucht aber im Gebüsch. Obwohl er erst dreizehn ist, dreht er selber. Das finden alle Kinder eklig, weil er immer Tabakflecken an den Fingern hat. Nur Jackie Mesch mag ihn ganz gerne. Jackie Mesch ist ein komisches Mädchen.
In der Pause sammelt sie Brombeeren in Tupperdosen. Manchmal bietet sie dem kleinen Hoppmann von den klebrigen Dingern an. Er nimmt dann welche, auch wenn der große Hoppmann dabei ist und sagt: „Machst du wieder mit der Brombeer-Schlampe rum?“
Der kleine Hoppmann sagt dann nur: „Und wenn schon.“ Er weiß, dass er immerhin verliebt ist und sein Bruder, der große Hopp­mann, nicht. Der große Hoppmann macht immer nur rum mit Mäd­chen. Zum Beispiel mit der Dorle, das ist ein Problemkind mit Hund. Hinter ihrem Rücken verarscht er sie, er sagt: „Die Dorle, mit der mach ich doch nur so.“
Einmal schläft er sehr grob mit ihr, als ihre Eltern nicht zu Hause sind. Die Eltern kriegen das aber heraus und erscheinen mit Dorle und dem Hund im Jugendzentrum bei der Sozialarbeiterin. Die Sozialarbeiterin ist die, an die man sich wenden kann. Sie kocht Kaffee und ruft bei den Hoppmanns an, aber die Eltern legen auf. Da kann die Sozialarbeiterin nichts machen. Aber sie kümmert sich um Dorle und setzt sich mit ihr vor die Bandschneidemaschine.

Eigentlich kann ich das alles aber nur von außen beobachten. Ich bin ein Lehrerkind und gehe mit Sascha in eine Klasse. Sascha ist der kleine Hoppmann. Wir sitzen zusammen in der letzten Reihe und sehen zu, wie Jackie Mesch immer zu spät kommt in diesem kurzen, silbernen Kleid, das sie neuerdings trägt. Der Lehrer kriegt einen roten Kopf, weil sie zu spät kommt oder wegen dem Kleid. Sie guckt aus dem Fenster uns legt sich die Hand zwischen die Beine. Seit sie das silberne Kleid trägt, sieht sie ein bisschen aus wie ein Star.
Sascha Hoppmann bringt mir bei, wie man Zigaretten dreht. Wir sind Freunde, auch wenn es bei mir zuhause ganz anders aussieht: Wir haben eine Solaranlage auf dem Dach und eine Sauna im Keller. Aber obwohl wir reicher sind, gibt es bei uns auch Ärger. Wenn ich zu meiner Mutter sage, dass ich sie hasse, und sie mir sagt, dass sie mich hasst, muss Sascha nachhause gehen.
Viel lieber bin ich im Jugendzentrum, denn dort bin ich der Mo­de­ra­tor von Radio Frechfunk. Neben mir sitzt der Radio-Techniker. Es ist ein geistig etwas zurückgebliebener Helmut. Auf dem Sofa sitzen der große Hoppmann, Sascha Hoppmann, Jackie Mesch und Dorle. Der große Hoppmann verarscht Helmut, indem er sagt: „Hel­mi, Helmi.“ Wir anderen machen auch alle mit beim Verarschen, sogar der Zivildienstleistende. Wenn die Sozialarbeiterin kommt und das mitkriegt, sieht sie mich enttäuscht an. Von mir hat sie das nicht erwartet.
Der Zivildienstleistende spielt Gitarre und macht mit uns eine Band auf. Ich bin der Sänger. Jackie Mesch wippt mit dem Kopf und guckt absichtlich etwas traurig. Sascha Hoppmann sitzt hinten am Schlagzeug.

Beim Sportfest versucht Sascha Hoppmann Jackie Mesch zu beeindrucken, indem er so tut, als könnte er einen der Zeppelins mit dem Daumen und dem Zeigefinger aus dem Himmel nehmen. Es soll ein humorvoller Zaubertrick sein, aber es funktioniert nicht, weil Jackie Mesch es nicht versteht. Sascha Hoppmann schämt sich und rennt weg.
Abends besuchen wir neuerdings Helmut, weil wir mitgekriegt haben, dass er ganz alleine in einem kaputten Haus wohnt. Wir sitzen im Garten und trinken Apfelkorn. Wir spielen auch Fußball auf der Wiese vor Helmuts Haus, aber das macht nicht so viel Spaß. Helmut will immer mitspielen. Er läuft an, verfehlt den Ball und fällt auf die Fresse. Gegenüber ist ein Secondhand-Möbellager, da sitzen die Arbeiter auf ihren Stühlen und feuern ihn an: „Gebt mir ein H, gebt mir ein E, gebt mir ein L, gebt mir ein M, gebt mir ein U, gebt mir ein T.“ Sie singen: „Hel-mut, Hel-mut, Hel-mut.“ Helmut läuft an, verfehlt den Ball und fällt auf die Fresse.
Einmal bleiben wir über Nacht in Helmuts Haus. Als alle schlafen, schlafe ich mit Jackie Mesch. Der große Hoppmann hat auch schon mit ihr geschlafen. Jackie Mesch riecht komisch und macht die Augen zu, als würde sie schlafen. Ich sage ihren Namen, aber sie lässt die Augen einfach zu, deshalb bin ich sozusagen alleine. Ihr Busen und ihr Kopf wippen vor und zurück. Das silberne Kleid hat sie sich als Decke unter gelegt.

Jackie Mesch entwickelt einen Spleen. Sie trägt zum Beispiel keine Unterhosen mehr unter ihrem silbernen Kleid. Während des Unter­richts steht sie unten an der Straße. Sascha und ich gucken immer aus dem Fenster, ob sie mitgenommen wird. Sie lehnt dann an der Plakatwand und bewegt sich ein bisschen hin und her, als würde sie jemand fotografieren. Sie muss in eine Jugendpsychiatrie. Als wir davon Wind bekommen, fährt die Sozialarbeiterin mit mir, den Hoppmann-Brüdern und Dorle im Bulli hin. Wir haben einen Be­suchs­termin. Es sieht überhaupt nicht aus wie in einer Psychiatrie. Es gibt sogar Sommerbasteleien an der Wand. Auch Jackie Mesch sieht wieder ganz normal aus, weil sie einen Jogginganzug trägt. Sie sagt, dass es hier besser ist als zuhause, weil sie nicht in die Schule muss. Wir trinken Kakao. Der große Hoppmann flüstert immer: „Klapse, Klapse!“, aber als die Sozialarbeiterin ihn zurechtweist, ist er ruhig. Die Sozialarbeiterin sagt: „Wir brauchen dich aber bald wieder für das Radio, Jackie.“
Als wir gehen umarmt der große Hoppmann die Jackie Mesch. Manchmal ist er plötzlich nett. Wir anderen umarmen Jackie Mesch auch. Auf der Rückfahrt im Bulli hören wir die Aufnahmen von der Band.
Ich will auch Sozialarbeiter werden. Die Sozialarbeiterin erzählt mir, dass es allerdings ein schwieriger Beruf ist. Mit mir kann sie darüber reden. Sie weiß, dass ich klüger bin als die anderen Kinder, weil ich keine armen Eltern habe. Bei der Vollversammlung schlägt sie mich als Kaffeekassenwart vor. Ich gebe die Aufgabe später an Sascha Hoppmann ab: Durch Verantwortung reift der Charakter. Ich bin auch öfter mit Dorle in der Radiowerkstatt. Die Sozialarbeiterin findet das gut.
Als Jackie wieder aus der Psychiatrie da ist, wird sie meine Freundin, aber wir reden nicht viel miteinander. Einmal frage ich, ob sie das silberne Kleid für mich anzieht, aber sie sagt, dass sie ab jetzt für immer zu ihrer echten Persönlichkeit steht.
Mit Sascha verstehe ich mich nicht mehr so gut. Als ich merke, dass er geringe Beträge aus der Kaffeekasse klaut, stelle ich ihn zur Rede und sage: „Hey Hoppmann, ich merke, dass du geringe Beträge aus der Kaffeekasse klaust.“ Er sagt nur: „Und wenn schon.“ Wir können nicht vernünftig darüber reden, denn er ist emotional versperrt. Auch sonst fällt die Gruppe etwas auseinander. Der große Hoppmann muss Sozialstunden machen und ist nicht mehr da. Die Sozialarbeiterin wird krank. Sie wird erst immer dicker und hat dann diese Krankheit, bei der man Unsinn redet, ohne es zu merken. Sie kommt ins Krankenhaus. Als sie wieder da ist, arbeitet sie nur noch die Hälfte. Das mit Jackie Mesch läuft nur kurz, aber dann ziehe ich eh in eine andere Stadt und sehe keinen mehr wieder.

Aus: Andreas Stichmann: Jackie in Silber. mairisch Verlag, Herbst 2008

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Andreas Stichmann, geboren 1983 in Bonn, lebt in Leipzig. Sein Erzählband Jackie in Silber ist im September 08 im mairisch Verlag erschienen. 2009 erhielt Andreas Stichmann den Clemens-Brentano-Preis für Literatur. Er gehört ebenso zu den Debütpreisträgern (2006) des poetenladens.
 
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