POET NR. 02 INHALT COVER ORDERN ET CETERA

  Tania Kummer

Etwas fürchten (...) und sorgen muss der Mensch
für den kommenden Morgen *


Sie ist keine leidenschaftliche Aufsteherin
und liegt doch mit den Füßen in Richtung Tür im Bett,
steht behände auf,
nachdem alle drei Wecker geklingelt haben.

Schon um sieben in der Küche plaudert ihr Kopf gewaltig,
erzählt vom kommenden Tag,
von Nadelstreifen, Neidnägeln, Notrufen
– und keiner geht ran.

Dann der erste Kaffee
von nicht mehr und nicht weniger
als dreien an diesem Tag,

(sonst werden die Zähne nicht gelb, sondern braun.
Sie haben schlechte Zähne, hat die Dentalhygienikerin gesagt,
seither putzt sie die Zähne dreimal täglich,
benutzt Mundwasser und Zahnseide und eine Schallzahnbürste,
mit der sie fliegen kann,
das Bürsten ist ihr zur Reise geworden, mit der Sputnik bis zum Mond,
dreimal täglich putzt sie lange die Zähne,
die Zahnpasta spuckt sie aus, spült den Mund aber nicht mit Wasser,
Prophylaxe ist ihr Wegweiser),

dass sie morgens alleine im Flur steht, ist selbstverständlich
und war selbstverständlich schon immer so,
sie hätte sich nie in eine Ehe verkaufen lassen,
sie wird sich nie mit Kindern teilen.

Sie verpflichtet sich zu keinen Kompromissen,
wird sich niemals Topflappen über die Hände streifen,
um den Auflauf
in einer großen Schüssel in den Ofen zu schieben.
Sie hinterlässt am Morgen den Staub im Flur,
Kleider auf dem Boden,
hinterlässt ihre Wohnung ganz sich selber,
lässt sich die Wohnung im Lift durch den Kopf gehen und kehrt zurück:

Der Herd ist abgedreht,
aber sie beobachtet ihn
zur Sicherheit
noch einige Minuten,

die Kerzen sind am Vorabend erloschen,
doch sie bläst kräftig zu den Dochten hin,
den Schlüssel dreht sie und drückt die Türfalle mehrere Male,
sie wird das Tram verpassen.

Immer am Morgen, wenn sie aus dem Haus geht,
immer am Morgen auf der Straße plagt sie die Angst,
Rot nicht mehr von Grün unterscheiden zu können,
auf der Ampel nur noch leuchtendes Braun zu sehen.

Hat nicht Patrizia kürzlich von diesem Unfall erzählt,
die Polizei habe ein Zelt aufgestellt
und die Feuerwehr Blut aus den Tramschienen geschwemmt

Am Kreuzplatz, sagte sie, sei es passiert,
am Klusplatz also?
nein, am Kreuzplatz! wiederholte Patrizia, lachte und sagte,
Du und deine Art mit Zürich.

Sie will sich nicht verirren in Zürich,
auch wenn das vielleicht halb so schlimm wäre,
halb so schlimm,
wie wenn sie sich in Berlin verirren würde,
wenn du dort mit der Bahn lange genug in die falsche Richtung fährst und aussteigst, warten die Neonazis schon auf dich,
hat ihr jemand erzählt,
bestimmt wird einem das in Zürich zunehmend auch passieren können.

Es wird ihr nicht mehr rechtzeitig zur Arbeit reichen,
nicht, dass sie zu einer bestimmten Zeit dort sein müsste,
aber sie hat ihr Zeitfenster, das sie beruhigt.

Sie sieht das Tram um die Ecke biegen:
Ein entarteter Wurm mit einem großen blauen Auge,
aus dem die Nummer 14 leuchtet.

Da kommt ein Mann, sie kann sehen, dass er nicht ganz bei Trost ist,
aber wer ist sie denn, wenn sie wegläuft,
er kommt mit seinem Gesicht nahe an sie ran und fragt Bahnhof?
Sie hält den Atem an und zeigt mit dem Kinn in die Richtung,
in die das Tram fahren wird;
er ist nicht ganz bei Trost!
Und hat vielleicht Filme über Terroristen gesehen
und weil er es nicht besser weiß, ist er auch einer geworden,
vielleicht trägt er einen Sprengsatz unter seinem Hemd
und wartet auf ein Gramm mehr Wahnsinn.

Sie hat vom kalten Wind Wasser in den Augen,
als sie sich im Tram weit von ihm wegsetzt,
die Zeitung ausbreitet und liest,
ein junger Pitbull wurde von Männern mit Baseballschlägern geschlagen,
ein Tierfreund wollte eingreifen,
da befreiten die Männer den Pitbull vom Maulkorb
und der Hund verbiss sich in das Bein des Tierfreundes.

Wieder gehen ihr die Augen über und der Magen fast mit;
sie hat keine Angst vor Pitbulls, sie hat Angst vor Schlägern,
sie hat Angst.
Sie hat Angst vor den Bildern, die zeigen,
wie in China Katzen in Säcke gesteckt und lebendig gekocht werden,
kurz hört man noch jämmerliches Miauen,

wie es mit Hummern geschieht, die nicht in Haushalten leben
und nicht miauen
und darum nur mit kleinem öffentlichem Ärger gekocht werden,
sie hat Angst, dass die indischen Kühe,
die mit stumpfen Gegenständen geschlachtet werden,
wirklich heilig sind und im Paradies Menschen zu Tode trampeln, wahllos.

Wenn die Welt im Großen zum Fürchten ist,
wie sollte sie nicht um die Details bangen,
und ihr Tag hat Platz für viele Fehler.

Sie hat sich in die Umlaufbahn der Karrieren geschossen,
willentlich, entschlossen,
nun weiß sie nicht mehr, wer sie entschlossen gemacht hat,

sie balanciert auf einem dünnen Mäuerchen,
die Arme ausgestreckt,
die Konkurrenten kitzeln mit Grashalmen ihre nackten Achselhöhlen,

sie gehört zum Personal der alleinstehenden Freundinnen,
ihr Chef ist die Selbständigkeit, der gekündigt wurde,
ad interim regiert Stress.

Die erste Freundin ruft am Morgen an,
redet nur von sich, wie alle Freundinnen nur von sich reden
und sich alle meinen,

es gibt keine Unterschiede zwischen ihnen, die Frauen sind sich Trost,
die starken Frauen mit ihren starken Worten und sie denken:
Ich teile mich mit ihnen, wir verstehen uns,
wir verstehen uns,
und unser gegenseitiger Zuspruch ist nahrhafter als der Besuch beim Psychologen,
der sagt, sie könne die Partnerschaft nicht einfach aus ihrem Leben ausschließen, auch nicht die Kinder,
von denen ihre Eltern sagen, die kommen noch, auch der Wille dafür,
die Sehnsucht danach, die kommen noch,
sie sagen, mach dir keine Sorgen.

Mach dir keine Sorgen.

Doch sie fürchtet sich davor,
wie das Licht in ihrem Schlafzimmer steht,
hell wie in der Bahnhofhalle einige Stunden nach Mitternacht.

Bestimmt hat sie sich mit einer Krankheit angesteckt,
ohne Erinnerung an das Wo, das Wann oder bei wem,
aber die Sicherheit, dass.

Sie ist noch keine 30 Jahre alt und würde sich manchmal gerne für tot erklären.

Sie bewegt sich kaum mehr, und wenn sie sitzt,
will sie nicht mehr aufstehen, weil sie sich davor fürchtet,
was dort sitzt, wenn sie es nicht mehr tut.

Nur die Arbeit frisst ihre Zeit für Sorgen
und rülpst sie abends aus, wenn sie alleine ist.
Dann ist sie nur noch eine Wand aus hohlen Backsteinen
und immun gegen auch nur ein einziges Gefühl.

Sie geht früh schlafen, das Bett ist ihre Insel, sie legt sich in die Mitte,
damit um sie genug Ufer ist, wenn mit ihren Träumen die Flut kommt.
Mit dem Schlafen möchte sie wirklich nicht mehr aufhören.
Denn wieder am Morgen sieht sie im Spiegel die alte Frau,
die sie eines Tages sein wird,
schon jetzt ist ihr Profil von der Stirn bis zur Halskuhle
eine gerade Linie aus Haut, nur Nase und Lippen stehen ein bisschen hervor.

Sie liest in den Magazinen:

Die Welt ist ein offenes Tor.

Doch sie wird einfach nur älter,
Woche für Woche,
und sorgt sich Tag für Tag
ein bisschen mehr.

Und sonst ist noch nie viel passiert.


* Friedrich v. Schiller, „Die Braut von Messina“

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Tania Kummer, geboren 1976, lebt in Zürich. Ausbildung zur Buch­händlerin. Mehrere Jahre Produzentin beim Musik­sender VIVA Schweiz, heute Redak­teurin beim Schweizer Fernsehen. Stipen­diatin des Lite­rarischen Colloquiums Berlin. Plat­zen vor Glück. Erzäh­lungen 2006 sowie Wäre doch gelacht, Erzäh­lungen 2009, (Zytglogge)..
 
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