POET NR. 15 INHALT COVER ORDERN ET CETERA

  Sibylle Luithlen

Kopfunter. Geschichten vom Weggehen


Der Geliebte

Hier liebe ich einen Mann mit einem zu kurzen Bein, sagt sie und rührt in ihrer Tasse. Es ist nicht angeboren und er hat auch keinen Unfall gehabt, es ist nur das Alter und der Kummer, die es kürzer werden ließen. Vielleicht wollte es den Boden einfach nicht mehr berühren. Jetzt hinkt er.
Zu Hause käme für mich nur ein Mann mit zwei gleich langen Beinen in Frage, sagt sie, ein Mann mit regelmäßigem, federndem Schritt, schon der anderen wegen. Wie sollte ich meinen Eltern von ihm erzählen? Sie würden es nicht verstehen. Sie würden sagen: Lassen wir dich dafür eine teure Ausbildung machen? Bezahlen wir dafür ein Studium im Ausland? Damit du uns einen Mann mit einem zu kurzen Bein nach Hause bringst? Einen, der hinkt?
Für meine Eltern ist Ausland so etwas Ähnliches wie damals die Beförderung des Vaters zum Schichtleiter oder unser einziger Urlaub am Meer, sagt sie.
Der Kaffee ist nicht richtig heiß, sagt sie dann.
Die Eltern wissen nicht, dass sich im Ausland die Haut schneller abnutzt, als wäre irgendetwas in der Luft, das sie angreift. Eine Säure oder eine zu hohe Strahlendosis. Und sie wissen nicht, dass die innere Temperatur im Sommer viele Grad unter der äußeren liegt und im Winter nur wenig darüber. Davon haben sie keine Ahnung, die Eltern; sie würden es auch nicht glauben. Dass man am Ende froh ist, ein Herz zu finden, neben das man seines eine Weile legen kann, einfach, damit es nicht immer alleine schlagen muss. Davon machen sie sich keine Vorstellung. Dass man sich im Ausland nicht beschwert, wenn der Kaffee nicht richtig heiß ist, und zwar nicht, weil es einen nicht stört, sondern weil es viel zu unwichtig ist. Dass einem hier ein zu kurzes Bein vorkommt wie eine Kleinigkeit, obwohl es einem zu Hause als ein schweres Schicksal erschienen wäre. Sie verstehen all das nicht, darum kann ich von dem Mann nicht erzählen, obwohl sie jedes Mal fragen, ob ich denn nun einen gefunden habe. Nie kämen sie auf die Idee, dass ich einen mit zwei unterschiedlich langen Beinen habe; sie denken, ich finde keinen, weil ich zu anspruchsvoll bin. Dabei bin ich nichts weniger als das, sagt sie. Selbst lauwarmen Kaffee akzeptiere ich, ohne mich zu beschweren.


Der Ungar

Eines Nachts – ich lebte erst seit kurzem in der Fremde und befand mich in dieser sonderbaren Euphorie, die mit dem Beginn eines neuen Lebens einhergeht – bot mir ein junger Ungar nach einem Fest an, mich nach Hause zu bringen. Wir hatten den Abend damit verbracht, über komplizierte Dinge zu reden und erst Bier und dann Scotch zu trinken. Wir hatten zwei Lieder lang getanzt, ohne uns anzusehen, und irgendwann hatte der Ungar mich gefragt, was ich denn alleine hier mache, wo ich doch einen Mann und Kinder habe und überhaupt. Wie ich so reden könne. Du hast doch auch eine Frau und ein Kind, wandte ich ein; er seufzte und sah einen Moment mutlos aus.
Und, fährst du jetzt mit?, fragte er, als es Zeit zum Gehen war.
Ich saß unbequem auf dem dünnen Eisengestänge des Gepäckträgers und hielt mich an den Laschen seiner Jeans fest. Die ersten Meter schwankte er, und ich musste achtgeben, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Autos machten hupend einen Bogen um uns. Es war eine der ersten kühlen Nächte, man roch den Herbst. Alles war noch unbekannt: die Fassaden der Häuser, die Leuchtschriften über den Läden, die Straßennamen, die Polizeisirenen.
Everything ok?, rief der Ungar.
Yes!, rief ich zurück.
Die Straße führte steil bergab und irgendwo weit hinten wieder bergauf. Der Ungar spreizte die Beine ab und ließ das Fahrrad rollen. Schneller und schneller rasten wir die gepunktete Linie der gelben Straßenlaternen entlang, eine leuchtende Perlenkette. Die kalte Luft nahm mir den Atem, alles sauste vorbei, ich presste die Arme um seine Hüften. Ich stellte mir vor, mit dem jungen Ungarn verknotet auf dieser Straße zu sterben, was wäre das wohl für ein Tod? Warum machte er mir keine Angst, warum machte mir nichts Angst in diesem Moment?
Da stieß der Ungar einen langen und gellenden Jubelschrei aus; wie eine Lichtschliere zog er sich die Straße entlang und verlor sich in der milchigen Dunkelheit.
Again!, rief ich von hinten. Wir schrieen noch mal, dieses Mal zusammen. Als hätte dieser Schrei viele Jahre in einem versteckten Winkel geschlummert und geduldig auf seinen Moment gewartet. Er war laut und durchdringend. Vielleicht würden wir den Berg ebenso schnell hinauf rollen und oben, an dem Punkt, der von hier aussah wie das Ende der Welt, abheben?
Puta!, schrie mir jemand hinterher, als mein Schrei verklungen war.
Selber puta! Ich lachte, der Ungar fing nun doch wieder an, in die Pedale zu treten, denn wir hatten den tiefsten Punkt durchquert.
Wohin jetzt?, rief er nach hinten.
Nach links!, rief ich, dabei wohnte ich rechts. Wir rollten noch einen Berg hinunter, dieses Mal schweigend. Unten stieg ich ab und vertrat mir die Beine. Mein Hintern war taub von dem unbequemen Sitzen, der Ungar war außer Atem. Ich verabschiedete mich. Und danke auch, sagte ich.
Wohnst du denn hier?
Ich laufe den Rest.
Der Ungar sah sich um, schüttelte den Kopf.
Eine Sekunde hätte ich fast gedacht, ich wäre ich dich verliebt, sagte er.
Das war ziemlich wenig; eine Sekunde, und dazu nur gedacht. Ich hatte eine Sekunde mit ihm auf dieser Straße sterben wollen, aber das sagte ich nicht.
Einen Teil der Strecke hüpfte ich, einen anderen sprang ich auf die Linien, ein paar Mal drehte ich mich mit ausgestreckten Armen um meine Achse. So kam ich nach Hause.


Flachwurzler und Tiefwurzler

Flachwurzler sind Pflanzen mit Wurzeln, die sich tellerförmig in den oberen Bodenschichten ausbreiten. Zu ihnen gehören viele Fichten­arten, die Banks-Kiefer, auch die Douglasie, die Hainbuche und die Weiden. Bei schlechten Bodenverhältnissen können Flachwurzler keinen optimalen Halt finden und sind bei starkem Sturm windwurfgefährdet. Bei guten Bodenverhältnissen und auf geeigneten Gesteinen entwickeln sie jedoch ein solides Wurzelsystem und wachsen an ganze Gesteinsbrocken an. Sie sind dann in der Regel standfest.
Als Tiefwurzler bezeichnet man die Pflanzengruppe, deren Wurzeln tief in den Erdboden vordringen. Dabei überwinden einige sogar ­meh­rere Meter. Somit erreichen Tiefwurzler mit ihren langgestreckten ­Wurzeln das Grundwasser eher als Flachwurzler. Sie erzielen damit eine höhere Standfestigkeit und sind bei Sturm weniger windwurfgefährdet. Im Zentrum ihres Wurzelsystems stehen die verholzten Hauptwurzeln. Diese wachsen senkrecht in das Erdreich hinein und sorgen damit für große Stabilität.


Auszug aus einer Geschichtensammlung

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Sibylle Luithlen, geboren in Bonn, Studium der Germanistik und Romanistik in Köln und Erlangen, lebt in Köln und Brüssel. Teilnahme an verschiedenen Seminaren (Autorinnenforum 2004, Münchner Literaturwerkstatt 2008) und am open mike (2004). Veröffentlichungen unter anderem: Ischai (RheinWörtlich 2011) und Wir aus der Ritterstraße (Oetinger Verlag 2012, unter dem Pseudonym Maria Pauls) sowie in Zeitschriften und Anthologien. Seit 2008 regelmäßige Teilnahme am Kölner Literaturatelier.
 
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