POET NR. 14 INHALT COVER ORDERN ET CETERA

 
Katharina Bendixren

PROSAMINIATUREN
Zusammengestellt von Katharina Bendixen


»Aufhören, wenn's am schönsten ist«

Was sind das für Texte, die auf den nächsten Seiten zu lesen sind? Sie sind kurz, aber es sind keine Gedichte. Sie erzählen, aber es sind keine Romane. Sind es Lyrikstories, wie Tina Ilse Maria Gintrowski sie getauft hat? Könnte ein geschickter Setzer sie sämtlich in zehn zeiler verwandeln, die Bezeichnung von Sudabeh Mohafez? Sollen wir sie Kurznovellen nennen, Schnellprosa, Romanatome – augenzwinkernde Vorschläge von Ron Winkler? Oder Denkzettel, wie Kerstin Hensel sie betitelt? Besitzt diese Art von Texten überhaupt einen Namen? Welche Texte eigentlich? Fragt Andreas Unterweger zu Recht, denn: »Eine Kürzestgeschichte ist doch etwas ganz anderes als eine lyrische Prosa.« Vielleicht nennen wir sie erst einmal Prosaminiaturen – eine Bezeichnung, auf die sich fast alle zwölf Autoren einigen können.

So verschieden die folgenden Prosaminiaturen sind, sie gehen auf dieselbe Tradition zurück. Im 19. Jahrhundert ließen sich die Leute von Kalendergeschichten unterhalten, kurzen Erzählungen über ungewöhnliche und kuriose Begebenheiten, die ihrerseits aus Parabel, Anekdote und Schwank schöpften. Manche Kalendergeschichte endete mit einer Moral, fast jede besaß eine Pointe. Dieses Erbe ist bis heute zu spüren – etwa wenn dem Hans in Andreas Unterwegers Text Der Winter dauerte nur einen Tag in der letzten Zeile einfällt: »Ich bin nicht Hans.« Oder wenn Jo Lendles Erzähler in Wertstoffe sich ohne zu zögern einer fremden Frau anschließt. Wertstoffe ist die längste Prosaminiatur der folgenden Seiten, sie zeigt, dass die Grenzen zur Erzählung fließend sind. Die Gattung aber scheint klar – Prosaminiaturen gehören zur Epik.
Oder? Manchmal verschwimmen die Grenzen zur Lyrik. Einige Texte in diesem Dossier scheinen Gedichte ohne Zeilenbrüche zu sein. Tina Ilse Maria Gintrowskis Lyrikstories zum Beispiel, die von einem starken Rhythmus vorangetrieben werden. Oder Simone Hirths Miniaturen, in denen sich jemand »mehr Elektrizität im Leben« wünscht, ein anderer »die allumfassende Revolution« startet. Mit Prosa hat das nicht mehr viel zu tun. Zumindest nicht das, was auf dem Papier steht. Von dem, was nicht darauf steht, reden wir später.

Auch wenn Andreas Unterweger und Jo Lendle ihre Texte mit einer Pointe schließen – typische Prosaminiaturen haben sie nicht geschrieben. Typische Prosaminiaturen scheint es überhaupt nicht zu geben: Selbst die deutschsprachigen Meister des Fachs – Johann Peter Hebel, Bertolt Brecht, Günter Eich, wahrscheinlich auch Peter Altenberg – sind kaum auf einen Nenner zu bringen. Wahrscheinlich macht gerade diese Offenheit die Prosaminiatur für Autoren so interessant: Es gibt keine Regeln, nur Spielarten. Und jeder Autor fügt eine neue Spielart hinzu.
Bei Michael Donhauser und Anne Weber sind das Skizzen, unaufgeregte Beschreibungen von Natur oder Raum, in denen wesentlich mehr aufscheint als das Beschriebene. Regina Dürig, Josef Maruan Paschen und Ron Winkler schreiben fragmentierte Geschichten, kurze Szenen, die im Zusammenspiel wiederum eine neue Geschichte erschaffen. Michael Augustin und Kerstin Hensel stehen vielleicht noch am ehesten in der Tradition der Kalendergeschichte, mit ihren sehr kurzen, gleichzeitig jedoch sehr erzählerischen Texten. Und Sudabeh Mohafez reiht sich neben Tina Ilse Maria Gintrowski und Simone Hirth in die lyrische Form ein, während auf der anderen Seite die Prosaminiaturen von Jo Lendle und Andreas Unterweger stehen – nicht nur aufgrund ihrer Länge, sondern auch aufgrund ihrer Erzählart.

Aber wenn diese Prosaminiaturen so unterschiedlich sind, wieso finden sie sich in einem Dossier? Natürlich nicht nur wegen ihrer Kürze. Nein, ihre wichtigste Gemeinsamkeit ist oben bereits angeklungen. Sie liegt in dem, was nicht auf dem Papier steht. Darin, dass sie den Leser »über längere und lange Zeit begleiten können, selbst wenn deren Lektüre im engeren Sinn einen nur kurz beanspruchte und oft schon eine Weile zurückliegt« (Michael Donhauser). Im besten Falle erzählen Prosaminiaturen etwas, wofür ein Roman, selbst eine Kurzgeschichte zu lang wären, was im Ge­halt diesen Formen jedoch nicht nachsteht – vielleicht wie ein Gedicht. Oder wie könnte eine Erzählung aussehen, in der der Leser das findet, was Anne Weber in Zwei gegen einen Leierkastenmann anspielende Gitarristen vor dem Straßburger Münster beschreibt? Wie wäre ein Ro­man über Kerstin Hensels Theatermacher beschaffen?
Und es gibt noch eine wichtige Gemeinsamkeit: Prosaminiaturen fordern die gewohnte Art des Lesens heraus, denn sie brechen mit der Erwartung, in einen Text eintauchen, sich darin fallen lassen zu können. Wer Prosaminiaturen schreibt, muss zuerst die Frage beantworten, »ab wann ein Text erzählen kann« (Ron Winkler). Er muss sich im Klaren sein über das, »was man weglassen kann« (Regina Dürig). Und er muss sich beschränken können, muss »aufhören, wenn's am schönsten ist« (Jo Lendle).

Ich nehme diese Warnung ernst und höre jetzt auf – auch wenn einige Fragen noch offen sind. Zum Beispiel, warum es Prosaminiaturen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt so schwer haben. Schließlich »hört ja auch nicht die Mehrheit lieber Wagner-Opern als kürzere Werke« (Tina Ilse Maria Gintrowski). Nur eine Antwort möchte ich nicht schuldig bleiben, die Antwort auf die Frage, weshalb sich nur die meisten, nicht aber alle zwölf Autoren auf den Ausdruck Prosaminiatur einigen können. Michael Donhauser bringt es auf den Punkt: Diese Bezeichnung »definiert sich stets in Konkurrenz zur Großform, während die Bezeichnung Roman nie bestrebt ist, sich als Langprosa etwa gegen die Erzählung abzugrenzen«. Ich glaube, auch ich habe die kurze gegen die lange Form ausgespielt. Vielleicht ist unsere Gegenwart daran schuld, sie ist – ich kenne den Grund nicht – eine Gegenwart für Romane. Vielleicht aber liegt es auch daran, dass ich ein zartes Gewächs aus einem mächtigen Schatten rücken wollte. Und dabei musste ich zuerst den Schatten aufzeigen.

Inhaltsverzeichnis   ►

 

 
Sylvia Geist, geboren 1963 in Berlin. Studium der Chemie, Germanistik und Kunstgeschichte. Schreibt Lyrik, Prosa, Kritiken und übersetzt. Auszeichnungen u.a. Lyrikpreis Meran 2002, Stipendiatin im Künstlerhaus Edenkoben 2006, Adolf-Mejstrik-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung 2008. Zuletzt: Vor dem Wetter. Gedichte (Luftschacht Verlag 2009) und Letzte Freunde. Erzählungen (Luftschacht Verlag 2011).
 
●   poetenladen
●   der verlag