POET NR. 12 INHALT COVER ORDERN ET CETERA

 
Rike Bolte

Neue Mexikanische Dichtung
Zusammengestellt von Rike Bolte


Sichtungen – Einblicke in die neue mexikanische Dichtkunst

Von welcher Farbe wird das außenpoetische Dossier zu Mexiko – dieser literarische Akten­deckel –, frage ich mich, als ich diese ein­führenden Worte zur (hoch-)aktu­el­len mexi­kanischen Dicht­kunst nieder­chreiben darf. Und was findet darin oder darunter Platz: balaceras, die Schuss&wechsel, die zum Alltag in dem vom organi­sierten Verbrechen, von den Drogen­kartellen dominierten Land gehören? Oder Ufos, von denen man hört, sie hätten etwas übrig für mexikanische Wüstenbezirke? Das Geheul der Llorona, die auf der Suche nach ihren Kindern ist? Die jungen Frauen, die Opfer von machismo und korrupter Polizei sind? Welches Wagnis beinhaltet diese poetische Mexiko-Akte, wenn jedes echte Gedicht ein geplantes Abenteuer ist, wie Mónica Nepote im Zusammenhang des Werks eines in diesem Dossier vertretenen Autors schreibt und sich dabei auf den brasi­lianischen Konkretisten Décio Pignatari bezieht?
Das Gedicht spricht sich selbst – seit den historischen Avant­garden und erst recht seit der konkreten Befreiung des Verses in Lateinamerika. Die Avant­garden haben in Brasilien wie in Mexiko und andernorts das Gedicht mit sich selbst identisch werden lassen und von der Autorschaft loszusagen versucht. Die poetischen Graphien Lateinamerikas im 20. Jahrhundert sind bis heute nachzulesen, sie setzen sich fort. War das geplant?
  Während nicht in der Welt zu sein scheint, was nicht in den Akten steht, und Akten wiederum Folgen von Handlungen sind, ist auch dieses Dossier die Folge einer – wählerischen – Handlung. Es steht für das geplante Abenteuer, einige wenige poetische Stimmen aus dem aktuellen Mexiko zur deutschen Sprache zu bringen. Damit ist die erste Umschiffung des echten Abenteuers beim Wort genannt. Denn dieses Dossier bietet einen Einblick allein in die spanischsprachige Dichtung des ­Landes, obwohl in Mexiko an die hundert weitere Sprachen (nicht europäischen Ursprungs) gesprochen werden und auch in ihnen Dichtung verfasst wird.
  Weiter eingegrenzt ist der Einblick, den dieses Dossier bietet, da­durch, dass sich die Auswahl auf das (urbane) Zentrum und den Norden Mexikos konzentriert. Die Dichtungen dieser Gegenden scheinen den stärkeren Link zur avant­gardis­tischen Fährte zu legen und das lite­ra­rische Echo aus den USA, etwa der Beat Generation aufzufangen. Die Baupläne der Texte der hier ausgewählten Dichte­rinnen und Dichter aus Mexiko-Stadt und dem Norden lassen sich also leichter beiholen. Auch weil sie sich medial übermitteln, weil sie grundlegend auf den Wahr­nehmungsmodus eingestellt sind, der seit der konkreten Poesie ton­angebend, eigentlich: blickgebend ist. Das Paradigma des Sichtbaren und des Ersichtlichen hat die Literatur seit den frühen Avant­garden und späterhin mit der fortschreitenden medialen Moderne revolutioniert; heute ist Dichtung, vor allem wenn sie aus dem Dickicht der Städte kommt, von der Sichtweise der visuellen Medien geprägt.
  Gleichzeitig schärft sich an der hier ausgewählten mexikanischen Poesie der Blick dafür, dass Dichtung heutzutage die Forderungen der li­te­rarischen Avant­garden beinahe übererfüllt hat. Weil ihr Radius enorm, aber auch zersplittert ist. In vielen der hier zusammengestellten Gedichte von Luis Felipe Fabre, Carla Faesler, Maricela Guerrero, Julián Herbert, Eduardo Padilla und Minerva Reynosa werden skopische Verfahren der Wirk­lichkeits­auf­fassung angewandt, wird der textuelle Raum zum Bildschirm, flimmert. Oder aber es steht bildlich still, wenn gespro­chen wird. Sind die Gedichte damit Blickfelder, keine Sprechfelder mehr? Oder ist es eben die lyrische Stimme, die die Codes der Gegenwart in den Mund nimmt, weil die mediale Wirklich­keit nicht mehr auszuschalten ist? Insbesondere der Norden Mexikos, der lange Zeit privilegiert war und stark an den USA ausgerichtet ist, ist heute vom Drogenkrieg und den Frauen­morden (den femicidios, die vor allem in der Grenzstadt Ciudad Juárez ungestraft stattfinden) gebeutelt. Dies provoziert eine Dichtung, die zu registrieren versucht, was die Ursachen und die Folgen dieser sozialen und politischen Unfass­barkeiten sind, die die Medien letztlich kaum mehr zu analysieren wissen. Dennoch stehen poetische Texte, inmitten dieser aktuellen politischen und sozialen Wirk­lichkeiten, auch noch im Wechsel mit einer weiteren Schule des Blicks, der Kontem­plation.
  Dieses Dossier präsentiert eine Sammlung von Gedichten, die auffällig oft eine filmische, clip-artige Perspektive wählen und gleichzeitig eine Kritik des Blicks praktizieren. Unter ihnen findet sich jedoch auch Mikrofiktion (microficción), ein hybrides, durchaus ebenso poetisches Genre, das in Lateinamerika und Spanien gerade Furore macht. Die microficción macht eigenwillige Impressionen möglich, die auf ihre Weise auf die Ästhetik der Avant­garden zurückführen und gleichzeitig mit der Erfahrung hypertextueller Strukturen zu tun haben.
  Soviel zu einem poetischen Aktendeckel, unter dem tatsächlich ­balaceras lauern, unter dem die Rede ist von Ufos oder ähnlichen Sichtungsphänomen, unter denen an das gewaltsame und ungestrafte Verschwinden von Mädchen erinnert wird. Ob es bei der Rede über Ufos also ausschließlich um Entführungen durch Außerirdische oder auch um irdischere Varianten geht, muss hier nicht beantwortet werden. Wenn es weiterhin in einem Gedicht heißt, „Jesus liebt dich“, in einem anderen aber "Jesus liebt dich nicht", dann mag das damit zu tun haben, dass manche der Dichter/innen auch in der Tradition von Schreibweisen stehen, die vor den Avant­garden liegen. So finden sich explizite Verweise auf den Barock Neu-Spaniens (insbesondere auf das Werk von Juana Inés de la Cruz), d.h. auf eine literarisch äußerst fruchtbare Zeit, in der das theokratische Weltbild ins Wanken geriet, die lateinamerikanische Kultur aufblühte und gleichzeitig eine der größten Dichte­rinnen des Kontinents ihr Zeugnis hinterließ.
  Soweit zu den Akten. Aktendeckel zu. Viel Spaß nun mit einigen aktuellen poetischen Sichtweisen aus Mexiko, einem der vielfältigsten und faszinierendsten Ländern Lateinamerikas. Klappe auf.

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Rike Bolte, geboren 1971 in Kassel, Kindheit in Spanien. Studium der Germanistik, Romanis­tik und Latein­amerika­nistik. Derzeit Wissen­schaft­liche Mit­arbei­terin an der Humboldt-Uni­versität, Über­setzerin, Autorin und Leite­rin des mobilen latein­ameri­kanischen Poesie­festivals Latinale. Mehrere zwei­sprachige Antho­logien zu junger latein­ameri­kani­scher Poesie und Prosa, zuletzt: Asado Verbal (Berlin 2010, mit Timo Berger) und TransVersalia. Verkehrte Verse (Berlin 2011).
 
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